Ich habe beide Seiten kennengelernt. Den Elfenbeinturm. Und das Büro über der Produktionshalle in der „Neun“, hinten. Im Mittelstand durfte ich die erste europaweite Nachhaltigkeitsstrategie von Grund auf entwickeln. Ich war unterwegs, wirklich unterwegs. Ich bin zu fast jeder Filiale in Europa gefahren, habe mit Standortleitungen, Mitarbeitenden mit Beeinträchtigung und skeptischen Geschäftsleitungen gesprochen. Ich habe Widerstände gespürt, mir ehrliche Kritik abgeholt – und Vertrauen aufgebaut. Es war zäh. Es war intensiv. Es war echt.
Und dann der Wechsel in die Konzernwelt. Die Strategie kam von ganz oben. Global. Ambitioniert. Mit beeindruckenden und gut aufbereiteten PowerPoint-Präsentationen. Meine Aufgabe? Nicht denken, nicht anpassen. Lokalisieren in fünf Ländern in Zentraleuropa. Copy. Paste. Fertig. Das Problem? Die Strategie war sauber gedacht, aber nicht verankert. Was global glänzte, verpuffte lokal – weil es an der Anschlussfähigkeit fehlte.
Das Dilemma zwischen Anspruch und Anschluss
Hier liegt das eigentliche Dilemma. Nachhaltigkeit soll strategisch und strukturell sein. Aber gleichzeitig konkret, anschlussfähig und lokal wirksam. Hyperlokales Nachhaltigkeitsmanagement trifft auf globale Zielbilder. Und in der Mitte? Nachhaltigkeitsverantwortliche, die diesen Spagat irgendwie bewältigen sollen. Und im Nacken sitzen die relevanten Stakeholder mit ambitionierten Zielen und kritischen Gedanken.
Warten ist keine Strategie
Heute erleben wir dieses Spannungsfeld mehr denn je. Die regulatorischen und kundenseitigen Anforderungen werden konkreter und umfangreicher. Der Omnibus-Gesetzentwurf verunsichert. ESG wird politisch instrumentalisiert. Bisheriger Rückenwind kommt nun immer häufiger von vorne. In vielen Unternehmen herrscht Stillstand wegen der Verunsicherung. Ich höre Sätze wie „Warten wir erstmal ab“ oder „Vielleicht ist das Thema in einem Jahr wieder weg“.
Gleichzeitig steigt der Druck. Lieferkettengesetz, Biodiversitätsstrategie, Scope 3 Emissionen, die in ungeahnte Höhen steigen. Das Transformationsversprechen bleibt bestehen, aber der Mut zur Umsetzung sinkt. Die Strategie ist da. Der Wille auch. Aber dazwischen klafft eine Lücke. Dabei ist die Umsetzung wichtiger denn je.
Ist die Lücke strukturell?
Diese Lücke ist nicht einfach ein Umsetzungsproblem. Sie ist aus meiner Sicht strukturell. Viele Strategien entstehen im Elfenbeinturm. Aus Benchmarks, Best Practices und Stakeholder-Erwartungen. Eher selten sitzen Menschen mit am Tisch, die später die Umsetzung tragen sollen. Das Ergebnis: schöne Ideen, die vielleicht irgendwo andocken. Ich habe es gemerkt, was in UK, USA und Australien funktioniert, wirkt in Deutschland, Polen und Rumänien wie aus einer anderen Welt. Was in London von beeindruckenden Strategen ausgedacht wurde, sorgte in Luzern für Schulterzucken und einem lächelnden „Da chume i nöd druus.“
Nachhaltigkeit braucht Kontext
Ich sage das nicht aus Theorie, sondern aus Erfahrung. Ich habe gesehen, wie kraftvoll lokale Beteiligung sein kann. Und wie lähmend es ist, wenn sie fehlt. Nachhaltigkeit ist kein Rollout-Projekt. Sie ist kein globales Template. Sie ist ein Prozess der Aneignung. Ein Aushandeln. Ein Verstehen.
Und ja, das ist aufwändig. Es ist auch ermüdend, da man die gleichen Diskussionen an verschiedenen Standorten, mit verschiedenen Personen und in verschiedenen Kontexten wiederholen muss. Aus meiner Sicht ist es der essenzielle Weg, um Nachhaltigkeit aus der Strategiepräsentation in die Praxis zu bringen. Das beginnt mit dem Zuhören. Mit Fragen wie „Wo stehen wir wirklich“ oder „Wo tut’s weh“.
Denn Nachhaltigkeit gelingt nicht, wenn sie als Add-on gedacht wird. Sie muss in den Kern des Geschäftsmodells. In die Entscheidungsprozesse. In die Meetingstruktur. In den Pausenraum. In die Köpfe und irgendwie auch in die Herzen der Führungskräfte. Und das geht nur, wenn wir den Menschen vor Ort zutrauen, mitzudenken – und nicht nur abzunicken.
Zeit für ein neues Verständnis von Umsetzung
Vielleicht ist es an der Zeit, den Begriff Strategie-Rollout zu streichen und die Umsetzung selbst in die Hände zu nehmen. Ich bin immer mehr überzeugt, das Nachhaltigkeitsmanagement entwickelt sich zurück zu den Ursprüngen: Sehr gut vernetzte Personen treiben das Nachhaltigkeitsmanagement und damit die Transformation. Und für die ganz spezifischen Themen werden punktuell Expert:innen ins Boot geholt. Das heißt, Ärmel hochkrempeln und vor Ort die Themen mit den richtigen Leuten treiben.
Drei mögliche Wege vom Elfenbeinturm rein in die Wuppertaler Kantine
- Lokale Resonanzformate schaffen. Keine Alibi-Workshops, sondern echte Dialogräume. Räume, in denen Mitarbeitende sagen dürfen, was hakt, was fehlt – und was sie selbst besser wissen als die Strategie. Das schafft „Ownership“.
- Orientierung geben. Gerade in Zeiten des regulatorischen Overloads brauchen Teams Klarheit. Du hast diese, die Kolleg:innen hören nur Flurfunk. Eine verständliche, regelmäßig aktualisierte Übersicht zu CSRD, VSME, Lieferkette und Biodiversität hilft – solange sie nicht als Pflichtlektüre daherkommt, sondern als Werkzeug. Die Regulatorik strukturiert die Transformation, macht sie transparent.
- Pilotprojekte starten. Klein, machbar, konkret. Scope 3 in einem Werk. Biodiversitätsmaßnahmen an einem Standort. Nicht perfekt – aber wirksam und als Lernerfahrung. Denn Wirkung beginnt mit Bewegung. Und die entsteht am besten dort, wo Menschen gesehen und ernst genommen werden. Und die Projekte können von Ort zu Ort, von Land zu Land unterschiedlich sein. Akzeptiere dies, es wird gut werden.
Ich bin überzeugt, Nachhaltigkeit braucht einen zentralen Schubs und dezentrale Energie. Keine idealtypische Vorlage, sondern Kontextintelligenz. Die Strategie kann in Hochglanz sein, sollte aber zu Gesprächen und Lokalisierung auf Augenhöhe auffordern. Das ist eine absolute Herausforderung, das weiß ich. Ich habe meine Bahncard 100 heiß laufen lassen, es hat sich gelohnt.
Ich bin gespannt, wie Du von Strategie in die Umsetzung kommst. Davon brauchen wir gerade ganz viel!
Euer
Alex Kraemer