Digitales Lernen barrierefrei gestalten

Digitales Lernen gilt als flexibel – barrierefrei ist es jedoch nicht automatisch. Das Barriere­freiheitsstärkungsgesetz, das im Juni in Kraft tritt, definiert neue Standards und verpflichtet betroffene Organisationen und Unternehmen zu umfassender Barrierefreiheit.

Am 28. Juni 2025 tritt die neue Verordnung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) in Kraft. Dieses Gesetz verpflichtet Anbieter von digitalen Produkten und Dienstleistungen – darunter E-Learning-Angebote – zu umfassender Barrierefreiheit. Ziel ist es, allen Menschen, einschließlich jenen mit körperlichen, sensorischen oder kognitiven Einschränkungen, uneingeschränkten Zugang zu digitalen Lerninhalten und Lernplattformen zu ermöglichen. 

BFSG: Hintergründe und rechtlicher Rahmen

Das BFSG basiert auf europäischen Richtlinien und internationalen Standards wie den "Web Content Accessibility Guidelines" (WCAG). Die WCAG, zuletzt 2018 auf Version 2.1 aktualisiert, definieren vier zentrale Prinzipien für Barrierefreiheit: Inhalte müssen wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gestaltet sein, um digitale Inhalte für eine breite Zielgruppe zugänglich zu machen, einschließlich Menschen mit Behinderungen. In Deutschland wurde dieses Regelwerk durch die Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik (BITV 2.0) konkretisiert. Für öffentliche Einrichtungen ist die Einhaltung der BITV 2.0 bereits Pflicht. Mit dem BFSG wird der Geltungsbereich erweitert: Auch Unternehmen, die Produkte und Dienstleistungen für Verbrauchende anbieten, müssen in absehbarer Zeit die entsprechenden Vorgaben erfüllen. Zu den Vorgaben gehören zum Beispiel

  • die vollständige Bedienbarkeit über Tasta­tur und Screenreader,
  • die Einhaltung von Kontraststandards und
  • die Unterstützung responsiver Designs, die sich an unterschiedliche Geräte und Bild­schirm­größen anpassen.

Barrierefreiheit dank Screenreader und KI

Screenreader und mobile Geräte wie Smartphones oder Tablets ermöglichen einen niederschwelligen Zugang zu Lerninhalten. Viele dieser Geräte verfügen bereits über integrierte Funktionen wie Sprachausgabe oder Kontrasteinstellungen, die speziell für Menschen mit Einschränkungen entwickelt wurden. Künstliche Intelligenz (KI) kann ebenfalls unterstützen, etwa durch die automatische Erstellung von Alternativtexten für Bilder. Allerdings bedarf es immer noch menschlicher Nachbearbeitung, um sicherzustellen, dass die Inhalte den Anforderungen tatsächlich entsprechen.

In der Praxis setzen Unternehmen oft auf pragmatische Ansätze, etwa die Bereitstellung barrierefreier Textalternativen oder das Angebot zusätzlicher Assistenzsysteme. Dies kann sinnvoll sein, wenn die Zielgruppe nur einen geringen Anteil an Personen mit spezifischen Bedürfnissen umfasst. Häufig ist auch von "barrierearmen" Angeboten die Rede. Im Gegensatz zu "barrierefrei" ist der Begriff "barrierearm" jedoch nicht gesetzlich definiert und garantiert im Zweifelsfall keine vollständige Zugänglichkeit.

Guy Fischer, Geschäftsführer des E-Learning-Anbieters Fischer, Knoblauch & Co. Medienproduktionsgesellschaft mbH aus München, hat sich mit seinem Unternehmen unter anderem auf barrierefreies E-Learning spezialisiert. Er sieht im bevorstehenden Inkrafttreten des BFSG eine dringende Notwendigkeit für Unternehmen, ihre digitalen Lernangebote anzupassen. Laut Fischer herrscht jedoch vielerorts ein großer Nachholbedarf, sowohl was das technische Know-how als auch das Bewusstsein für die neuen Anforderungen betrifft. "Es ist erstaunlich, wie wenig Qualifikation bisher in den betroffenen Bereichen stattgefunden hat", erklärt er. Dies gelte nicht nur für die Industrie, sondern auch für den öffentlichen Dienst, wo die gesetzliche Verpflichtung zur Barrierefreiheit schnell konkret wird. "Viele Dienstleister der Daseinsvorsorge wie Krankenhäuser oder Verkehrsbetriebe sind sich gar nicht bewusst, dass sie vom BFSG betroffen sind", erklärt er. Diese Unkenntnis führe dazu, dass Ausschreibungen häufig nicht die nötigen Anforderungen enthielten. "Erst wenn ein Betriebsrat oder eine andere Instanz interveniert, wird das Problem sichtbar."

Barrierefreiheit sollte von Anfang an mitgedacht werden

Die Produktion barrierefreier E-Learning-Inhalte ist nicht zwangsläufig komplizierter, aber deutlich zeit- und arbeitsintensiver. Branchenexperten wie Fischer schätzen den Mehraufwand auf etwa 30 Prozent. Einige interaktive Formate wie Drag-and-Drop-Übungen oder 3D-Modelle sind nur schwer vollständig barrierefrei umsetzbar. Wird Barrierefreiheit von Anfang an mitgedacht, ist jedoch vieles möglich. 

Bereits bei der Planung sollten spezielle Anforderungen berücksichtigt werden. So müssen Texte in der Art formuliert sein, dass sie klar verständlich sind, Fachbegriffe erklärt werden und barrierefreie Alternativen für interaktive Elemente wie Drag  and Drop bereitstehen. Alle visuellen Elemente – von Bildern bis zu Grafiken – benötigen detaillierte Beschreibungen. 

Technische Anforderungen wie ausreichende Kontraste, die Einbindung von Screenreader-kompatiblen Inhalten oder Tastatursteuerung erhöhen die Komplexität der Entwicklung. Zudem dürfen zeitgesteuerte Veränderungen wie automatische Animationen nur sparsam eingesetzt werden, um die Bedienbarkeit zu gewährleisten. Die abschließende Überprüfung der Barrierefreiheit erfordert spezifische Tests, um zum Beispiel die korrekte Reihenfolge von Screenreader-Ausgaben festzustellen oder die vollständige Funktionalität von Tastatursteuerungen.

Die Rolle zertifizierter Systeme für barrierefreie Inhalte

"Es ergibt wenig Sinn, barrierefreie Inhalte zu entwickeln, wenn die zugrunde liegende Infrastruktur – wie das LMS – nicht ebenfalls barrierefrei ist", stellt Guy Fischer fest, dessen Unternehmen ein nach BITV 2.0 sowie der europäischen Norm EN 301 549 V3.2.1 zertifiziertes LMS anbietet. Zertifizierungen sind insbesondere im öffentlichen Sektor unverzichtbar, wo strenge gesetzliche Vorgaben gelten.  

"Ein LMS barrierefrei zu gestalten, erfordert immense Anpassungen", betont er und führt aus, dass jede einzelne Benutzeroberfläche überprüft und optimiert werden müsse, um Screenreader-Kompatibilität und andere barrierefreie Funktionen sicherzustellen. Dabei sei nicht nur die Anpassung selbst arbeitsaufwendig, sondern auch die Notwendigkeit, die bestehenden Funktionen unverändert zu erhalten.  

Dennoch ist Fischer überzeugt, dass die Barrierefreiheit im digitalen Lernen eine Frage der Zeit sei. Unternehmen, die frühzeitig investieren, könnten nicht nur gesetzliche Vorgaben erfüllen, sondern sich auch Wettbewerbsvorteile sichern. "Die Einführung barrierefreier Systeme ist kein kurzfristiger Trend, sondern eine langfristige Notwendigkeit", resümiert er.

Nachfrage nach barrierefreiem E-Learning noch gering

Sebastian Gauter, Vertriebsleiter der Know How AG, ist überzeugt, dass der regulatorische Druck bereits Fortschritte in Sachen Barrierefreiheit beim E-Learning gebracht hat. Sein Unternehmen gehört zu einem Konsortium, das gemeinsam mit Fischer Knoblauch den Rahmenvertrag für barrierefreies Lernen in einem Bundesministerium bedient. "Im Bereich der öffentlichen Einrichtungen ist Barrierefreiheit ein Thema, aber außerhalb davon sehe ich das selten", erklärt Gauter. Im produzierenden Gewerbe oder bei vielen Mittelständlern sei Barrierefreiheit noch kein relevantes Thema, obwohl es künftig eine größere Rolle spielen wird. Statt aufwendige barrierefreie Web-Based-Trainings (WBTs) für kleine Zielgruppen zu entwickeln, ist seine Erfahrung, werde eher eine andere Person als persönliche Assistenz daneben gesetzt, die Inhalte vorliest und Hilfestellung leistet. Er bemängelt, dass viele Anbieter nur minimale Anpassungen vornehmen wie die Möglichkeit zur Schriftgrößenänderung oder Kontrasteinstellungen, was bestenfalls Barrierearmut, aber keine echte Barrierefreiheit ermöglicht.

Mobile Devices als Gamechanger für barrierefreies Lernen

Sebastian Gauter weist auf die Möglichkeiten hin, die mobile Endgeräte bereits für barrierefreies Lernen bieten, ganz ohne extra Anpassungen. "Mobile Devices wie Smartphones und Tablets bieten durch Bordmittel wie Screenreader oder Kontrasteinstellungen eine niedrigschwellige Möglichkeit, Inhalte barrierefrei zugänglich zu machen", erklärt er. Diese Flexibilität könne, so Gauter, ein Gamechanger für barrierefreies Lernen sein, vor allem in Kombination mit Lern-Apps oder Micro-Learning-Formaten. In der Kombination von mobilen Technologien, Barrierefreiheit und innovativen Lernformaten wie Learning Nuggets liegt für Sebastian Gauter eine vielversprechende Zukunft für barrierefreies digitales Lernen.

Barrierefreiheit kann Digitales Lernen für alle verbessern

Professor Simon Nestler, Experte für Mensch-Computer-Interaktion und Gründer von Nestler UUX Consulting, betont die immense Bedeutung der Barrierefreiheit im digitalen Lernen und Arbeitskontext und ist überzeugt, dass Investitionen in Barrierefreiheit die Gesamteffizienz und Benutzerfreundlichkeit insgesamt verbessern: "Maßnahmen zur Barrierefreiheit machen Systeme nicht nur zugänglicher, sondern auch insgesamt besser." Nestler führt an, dass solche Maßnahmen  zu Effizienzgewinnen für alle Mitarbeitenden führen können. Ein zentrales Problem, so Nestler, sei die fehlende Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Arbeitswelt. Diese Unsichtbarkeit führe dazu, dass barrierefreie Lösungen oft nicht priorisiert würden. "Das Henne-Ei-Problem zeigt sich deutlich: Wenn Stellenausschreibungen nicht barrierefrei sind, bewerben sich auch keine Menschen mit Behinderungen."

Eine große Chance für Unternehmen sieht der Professor darin, Barrierefreiheit als Wettbewerbsvorteil zu nutzen, gerade in einer Gesellschaft, in der auch die älteren Mitarbeitenden gebraucht werden und das Renteneintrittsalter steigt. "Rund zehn Prozent der Bevölkerung haben eine Behinderung, doch in der Gruppe der über 65-Jährigen liegt die Wahrscheinlichkeit einer schweren Behinderung bei über 50 Prozent", erklärt er.  Angesichts des demografischen Wandels und des verlängerten Arbeitslebens älterer Beschäftigter werde es immer wichtiger, Weiterbildungsmaßnahmen so zu gestalten, dass sie für alle zugänglich sind. "Barrierefreiheit ist nicht nur gesetzlich vorgeschrieben, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit", resümiert Nestler.  Barrierefreie Angebote ermöglichen es Unternehmen, alle Lernenden effektiv anzusprechen. Eine Verbesserung der Nutzererfahrung mit Maßnahmen, die Barrierefreiheit fördern wie klare Navigation oder anpassbare Schriftgrößen, kommen schließlich allen Nutzenden zugute.


Der Beitrag ist erschienen in neues lernen, Ausgabe 1/2025, das Fachmagazin für Personalentwicklung. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der App personalmagazin - neues lernen. In der App finden Sie auch die aktuellen News rund um "neues lernen" und den Podcast für die betriebliche Lernszene. Kristina Enderle da Silva und Julia Senner hinterfragen im Podcast "neues lernen" aktuelle Lerntrends, liefern Fakten und geben Einblicke in die Unternehmenspraxis.


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